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Die Zwölf Punkte

Alice Miller hat in ihrem neuesten Buch "Bilder einer Kindheit" zwölf Thesen formuliert. Sie erläutern Ursache und Wirkung im Kindesalter erfahrener Grausamkeit.

Seit einigen Jahren ist es wissenschaftlich erwiesen, daß die verheerenden Folgen der Traumatisierung des Kindes unweigerlich auf die Gesellschaft zurückschlagen. Dieses Wissen betrifft jeden einzelnen Menschen und muß - wenn genügend verbreitet - zur grundlegenden Veränderung unserer Gesellschaft, vor allem zur Befreiung von der blinden Eskalation der Gewalt führen. Die folgenden Punkte versuchen anzudeuten, was hier gemeint ist:

  1. Jedes Kind kommt auf die Welt, um zu wachsen, sich zu entfalten, zu leben, zu lieben und seine Bedürfnisse und Gefühle zu seinem Schutz zu artikulieren.
  2. Um sich entfalten zu können, braucht das Kind die Achtung und den Schutz der Erwachsenen, die es ernst nehmen, lieben und ihm ehrlich helfen, sich zu orientieren.
  3. Werden diese lebenswichtigen Bedürfnisse des Kindes frustriert, wird das Kind stattdessen für die Bedürfnisse Erwachsener ausgebeutet, geschlagen, gestraft, mißbraucht, manipuliert, vernachlässigt, betrogen, ohne daß je ein Zeuge eingreift, so wird die Integrität des Kindes nachhaltig verletzt.
  4. Die normale Reaktion auf die Verletzung wären Zorn und Schmerz. Da der Zorn aber in einer verletzenden Umgebung dem Kind verboten bleibt, und da das Erlebnis der Schmerzen in der Einsamkeit unerträglich wäre, muß es diese Gefühle unterdrücken, die Erinnerung an das Trauma verdrängen und seine Angreifer idealisieren. Es weiß später nicht, was ihm angetan wurde.
  5. Die nun von ihrem eigentlichen Grund abgespalteten Gefühle von Zorn, Ohnmacht, Verzweiflung, Sehnsucht, Angst und Schmerz verschaffen sich dennoch Ausdruck in zerstörerischen Akten gegen andere (Kriminalität, Völkermord) oder gegen sich selbst (Drogensucht, Alkoholismus, Prostitution, psychische Krankheiten, Suizid).
  6. Opfer der Racheakte sind sehr häufig eigene Kinder, die eine Sündenbockfunktion haben und deren Verfolgung in unserer Gesellschaft immer noch voll legitimiert ist, ja sogar in hohem Ansehen steht, sobald sie sich als Erziehung bezeichnet. Tragischerweise schlägt man sein eigenes Kind, um nicht zu spüren, was die eigenen Eltern getan hatten.
  7. Damit ein mißhandeltes Kind nicht zum Verbrecher oder Geisteskranken wird, ist es nötig, daß es zumindest einmal in seinem Leben einem Menschen begegnet, der eindeutig weiß, daß nicht das geschlagene, hilflose Kind, sondern seine Umgebung ver-rückt ist. Insofern kann das Wissen oder Nichtwissen der Gesellschaft das Leben retten helfen oder zu seiner Zerstörung beitragen. Hierin liegt die große Mõglichkeit von Verwandten, Anwälten, Richtern, Ärzten und Pflegenden, eindeutig für das Kind Partei zu ergreifen und ihm zu glauben.
  8. Bisher schützte die Gesellschaft die Erwachsenen und beschuldigte die Opfer. Sie wurde in ihrer Blindheit von Theorien unterstützt, die, noch ganz dem Erziehungsmuster unserer Urgroßväter entsprechend, im Kind ein verschlagenes, von bösen Trieben beherrschtes Wesen sahen, das lügenhafte Geschichten erfindet und die unschuldigen Eltem angreift oder sie sexuell begehrt. In Wahrheit neigt jedes Kind dazu, sich selber für die Grausamkeit der Eltern zu beschuldigen und den Eltern, die es immer liebt, die Verantwortung abzunehmen.
  9. Erst seit einigen Jahren läßt sich dank der Anwendung von neuen therapeutischen Methoden beweisen, daß verdrängte traumatische Erlebnisse der Kindheit im Körper gespeichert sind und daß sie sich, unbewußt geblieben, auf das spätere Leben des erwachsenen Menschen auswirken. Ferner haben elektronische Messungen an noch ungeborenen Kindern eine Tatsache enthüllt, die von den meisten Erwachsenen bisher noch nicht wahrgenommen wurde, nämlich daß das Kind sowohl Zärtlichkeit als auch Grausamkeit von Anfang an fühlt und lernt.
  10. Dank dieser Erkenntnisse offenbart jedes absurde Verhalten seine bisher verborgene Logik, sobald die in der Kindheit gemachten traumatischen Erfahrungen nicht mehr im dunkeln bleiben müssen.
  11. Unsere Sensibilisierung für die bisher allgemein geleugneten Grausamkeiten in der Kindheit und deren Folgen wird von selbst dazu führen, daß das Weitergeben der Gewalt von Generation zu Generation ein Ende findet.
  12. Menschen, deren Integrität in der Kindheit nicht verletzt wurde, die bei ihren Eltern Schutz, Respekt und Ehrlichkeit erfahren durften, werden in ihrer Jugend und auch später intelligent, sensibel, einfühlsam und hoch empfindungsfähig sein. Sie werden Freude am Leben haben und kein Bedürfnis verspüren, jemanden oder sich selber zu schädigen oder gar umzubringen. Sie werden ihre Macht gebrauchen, um sich zu verteidigen, aber nicht, um andere anzugreifen. Sie werden gar nicht anders können, als Schwächere, also auch ihre Kinder, zu achten und zu beschützen, weil sie dies einst selber erfahren haben und weil dieses Wissen (und nicht die Grausamkeit) in ihnen von Anfang an gespeichert wurde. Diese Menschen werden nie imstande sein zu verstehen, weshalb ihre Ahnen einst eine gigantische Kriegsindustrie haben aufbauen müssen, um sich in dieser Welt wohl und sicher zu fühlen. Da die Abwehr von frühesten Bedrohungen nicht ihre unbewußte Lebensaufgabe sein wird, werden sie mit realen Bedrohungen rationaler und kreativer umgehen können.

Auszug und Nachdruck mit Genehmigung der Autorin

Nachdruck dieses Artikels, ganz oder teilweise, ist nur mit der ausdrücklichen schriftlichen Genehmigung der Autorin Alice Miller gestattet.

Die "Zwölf Punkte" sind zuerst in englischer Sprache veröffentlicht worden (als Nachwort zu "For Your Own Good", Farrar, Straus, and Giroux, New York, 1984), und wurden dann als Anhang in "Bilder einer Kindheit" (Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1985) aufgenommen.